BauAbschnitte - Construction Stages
27.01.2021
Bausplitter: Gedanken zu Städte-Chartas
Es gibt eine neue Städte-Charta, die ganz aktuell Ende November 2020 von den europäischen Ministerien für Raumplanung gemeinsam verabschiedet wurde.
Als ich das zufällig las, stellten sich mir spontan die Nackenhaare hoch…hatte ich doch schon im Soziologie-Studium von der ersten Städte-„Charta von Athen“ von 1941 und vor allem von deren verheerenden jahrzehntelangen Aus- und Nebenwirkungen gehört. Es war gut gemeint, da die damals unwürdigen Lebensbedingungen für Viele in den Städten verbessert und das Ausbreiten von Krankheiten vermindert werden sollten. Wie so oft, gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. Vor lauter „Funktionalität“, die in der „Charta von Athen“ Dreh- und Angelpunkt war, wurden weitere menschliche Bedürfnisse glatt übersehen. Trauriges Überbleibsel davon sind heute zum Beispiel sogenannte Trabantenstädte oder Plattenbausiedlungen.
(Neuperlach, Stadtteil in München)
Jetzt also die neue Charta. Ich bin gespannt. Sie heißt „Neue Leipzig Charta“, neu deshalb, weil sie eine Weiterentwicklung der 2007 erstmals ins Leben gerufenen Leizpig-Charta ist. Augenscheinlich wurde sie in der Stadt Leipzig verabschiedet (Deutschland hat übrigens gerade die EU-Ratspräsidentschaft), aber sie soll für alle EU-Staaten Gültigkeit haben. Darauf haben sich die europäischen Ministerien für Raumplanung geeinigt. Worum geht’s diesmal? Wie bei der ersten Städte-Charta 1941 (wer übrigens pointiert mehr darüber lesen mag: mein Essay aus dem Studium dazu gebe ich gern weiter) sind die heutigen Probleme der Städte die Motivation für den als Umsetzungs-Leitfaden konzipierten Text. Erstaunlich ähnlich hören sich diese Probleme an, wobei im Zeitverlauf viele neue (oder zumindest neu wahrgenommene) wie der demographische Wandel oder der Klimaschutz hinzugekommen sind.[1]
Wer übrigens konkrete UMSETZUNGSideen erwartet á la „Städte, tut dies oder tut das“ wird enttäuscht. Vielmehr finden sich in der „Neuen Leipzig-Charta“ allgemeiner formulierte sogenannte „Prinzipien guter Stadtentwicklungspolitik“. Ziel der Charta sei es, das Gemeinwohl in den Städten der Zukunft stärker zu betonen und die drei neu formulierten Dimensionen „Gerecht, Grün und Produktiv“ umsetzen, dies alles auch mit Hilfe der Schnittfunktion „Digitalisierung“. Dafür gelte es Stadtplanungspolitik sowohl mit Macht als auch mit Geld auszustatten.
Ebenso solle “Oben” (gemeint ist die europaweite Ebene) von “Unten” (kommunale Ebene) durch direkten Austausch lernen und vice versa.
Ich persönlich finde das alles recht spannend, zumal es insgesamt in einem „Yes we can“-Ton geschrieben ist. Nach dem Motto: Europa steht zusammen und die europäischen Städte werden keine Probleme mehr haben. Der Wunsch nach dieser Utopie klingt wirklich durch. Sofort vermisse ich allerdings in den ganzen Texten Appelle an die Bürgerinnen und Bürger selbst. Politik, lokal und global, wird angesprochen, Finanzierende werden angesprochen, aber nicht die Bewohnenden selbst.
Und dann stoße ich auf die Website Nationale-Stadtentwicklungspolitik.de des Innenministeriums und bin begeistert. Denn wirklich bürger- und bürgerinnennah werden da auch noch optisch ansprechend die „Neue Leipzig-Charta“ erklärt und vor allem, welche konkreten (!) Umsetzungen die Städte in Deutschland planen. Juchu. Auch steht dort, dass im kommenden Jahr viele Initiativen geplant sind, um die Informationen der neuen Städte-Charta an jedermann und jederfrau zu bringen, also auch die Zielgruppe dieses Blogs hier. Aktuell wird zum Beispiel zu Ideen einer „Post-Corona-Stadt“ aufgerufen, es werden generell geeignete Projekte mit einem befristeten Label geadelt und über allem scheint ein „Stadt GEMEINSAM gestalten“ zu stehen.
Inwieweit diese schön formulierten Ziele dann auch tatsächlich im bürokratischen Deutschland und Europa umgesetzt werden können und wie stark sie von der städtischen Bevölkerung angenommen werden, steht auf einem anderen Blatt. Dies soll aber nicht Gegenstand dieses rein informativ gemeinten Onepagers sein. Ebenso wie bei der alten „Charta von Athen“ werden wir erst retrospektiv unerwünschte Nebenwirkungen bewerten können. Trotzdem entspannen sich meine oben erwähnten Nackenhaare: die „Neue Leipzig-Charta“ wurde anders als damals stark interdisziplinär erarbeitet, sie hat anders als damals die umsetzende Politik direkt mit im Boot und sie versteht auch deutlich anders als damals den Menschen nicht als funktionale Einheit, sondern in seiner Diversität.
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[1] Umsetzung wovon? Für Laien wie mich wird es jetzt mal kurz ein bisschen herausfordernd, weil dafür auf andere europäische Positionspapiere – und zwar verdammt viele- verwiesen wird.
Um es kurz zu machen: Die „Neue Leipzig-Charta“ soll primär die „Urbane Agenda für Europa“, ein europäischer Pakt aus 2016, mit Leben füllen.
Was argumentationslogisch allerdings sofort auffällt: in der „Urbanen Agenda für Europa“ wird wiederum auf die (alte) Leipzig-Charta verwiesen, wobei diesmal erstere die Umsetzung (!) letzterer sein soll, also genau umgedreht.
Ein Zirkelschluss.
Aber die „Neue Leipzig-Charta“ steht laut Papier auch noch in enger Verbindung mit der ebenfalls neuen „Territorialen Agenda 2030“.
Die wiederum ist eine aktuell überarbeitete Fassung vorheriger Versionen von sich und wurde justamente auch von den EU-Ministerien für Raumplanung in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Parlament, der Europäischen Kommission und vielen Weiteren verabschiedet.
Verwirrung komplett?
Wer weiterlesen möchte:
Die „Neue Leipzig-Charta“: https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/NSPWeb/SharedDocs/Downloads/DE/die_neue_leipzig_charta.pdf?__blob=publicationFile&v=3
Nationale Stadtentwicklungspolitik (Website des Innenministeriums): https://www.nationale-stadtentwicklungspolitik.de/NSPWeb/DE/Initiative/Leipzig-Charta/leipzig-charta_node.html
Die „Territoriale Agenda 2030“ der EU (Bezugnahme von und auf Neue Leipzig-Charta): https://www.territorialagenda.eu/files/agenda_theme/agenda_data/Territorial%20Agenda%20documents/DE_TerritorialeAgenda_201201.pdf
(auch hier spannend die konkreten Umsetzungsideen in den einzelnen europäischen Städten: https://www.atlasta2030.eu/de/index.php#c1-2-1)
Corona-bedingte Nachrichten: „Bund stellt Extra-Geld für krisenfeste Innenstadtkonzepte in Aussicht“:
(völlig unabhängig von der Charta wird die Deutsche Städtebauförderung 50 Jahre alt, was 2021 festlich begangen werden soll: https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/videos/DE/themen/bau/staedtebaufoerderung-bremen.html)
(alles abgerufen am 28.12.2020)
English version:
Chip off the Old Block: Thoughts on Urban Charters
There is a new city charter that has just been jointly approved by the European Ministries of Spatial/ Regional Planning at the end of November 2020.
Reading this makes my hackles rise… after all, I had already learnt in my sociology degree about the first city charter from 1941, the “Charter of Athens”, and heard about its devastating consequences and side effects that lasted decades. It was well intentioned, aiming to improve the inadequate living conditions of many in the cities and to reduce the spread of disease. But as is so often the case, well intentioned does not necessarily mean well executed. In the name of “functionality”, which was hailed as the pivotal point of the Athens Charter, the actual needs of the people were entirely overlooked. Nowadays, all that is left are its sad remnants, such as the so-called satellite towns.
So now the new charter. I am curious. It is called the “New Leipzig Charter”, new because it is a development of the Leizpig Charter which was first launched in 2007. Obviously, it was adopted in the city of Leipzig (Germany, by the way, currently holds the EU Council Presidency), but it is supposed to be valid for all EU member states. This is what the European Ministries of Spatial Planning have agreed on.
So what’s it about this time? As with the first Urban Charter in 1941 (by the way, if you’d like to read more about it, I’ll be happy to pass on my uni essay), the urban problems of today are the main focus of the charter, which is designed as a guide to implementation. These problems sound astonishingly similar, with the addition of many new ones (or at least newly recognised ones) such as demographic change and climate protection. [1]
But anyone who is expecting practical ideas on how to IMPLEMENT this, à la “cities, you should do this or do that”, will be disappointed. Instead, the “New Leipzig Charter” is just full of more generically formulated so-called “principles of good urban development policy“. The aim of the charter is to place greater emphasis on the common good in the cities of the future and to implement the three newly formulated aspects to make cities “Just, Green and Productive”, all of this with the helping hand of “digitalisation”.
To achieve this, urban planning policy must be provided with both power and money. At the same time, the top (meaning the European level) should learn from the bottom (the local level) through direct exchange and vice versa. Personally, I find this all pretty exciting, especially since it is written in this “Yes we can” tone. All following the motto: Europe stands together and European cities will no longer have problems. The desire for this utopia really comes through. Yet in all the texts I immediately felt something was missing: the citizens themselves. Politics, local and global, is addressed, financiers are addressed, but not the actual residents themselves.
And then I came across the website Nationale-Stadtentwicklungspolitik.de of the Ministry of the Interior and was thrilled. Because the “New Leipzig Charter” is presented in a really visually appealing way, with the people as an audience in mind, and above all, it explains which practical (!) implementations the cities in Germany are planning. Hooray. It also describes the many initiatives of the coming year which aim to inform the general public about the new city charter, so the same audience that is the target group of this blog.
At the moment, for example, there is a call for ideas for a “post-Corona city”, where generally suitable projects are given a new temporary label and “shaping the city TOGETHER” seems to be the overriding theme.
Yet the extent to which these beautifully articulated goals can then actually be implemented in bureaucratic Germany and Europe and how strongly they are accepted by the urban population is another matter. But this is not the subject of this purely informative one-pager. Just as with the old “Athens Charter”, the undesirable side effects can only be properly assessed retrospectively. Nevertheless, the hairs on the back of my neck can start to relax a little: unlike back then, the “New Leipzig Charter” was developed in a strongly interdisciplinary manner, it has policymakers directly on board, and it also clearly understands people not as a functional entity, but in terms of their diversity.
[1] Implementation of what? For the general public like me, bear with, to explain this will be a bit challenging for a moment because it refers to other European policy papers - and there are a hell of a lot of them.
The “New Leipzig Charter” is primarily intended to breathe new life into the “Urban Agenda for Europe”, a European pact from 2016. What is immediately clear from the logic of the argument, however, is that the “Urban Agenda for Europe” again refers to the (old) Leipzig Charter, although this time the former is supposed to be the implementation (!) of the latter, so exactly the other way round.
A circular argument.
But according to the paper, the “New Leipzig Charter” is also closely linked to the “Territorial Agenda 2030”, which is also new. This, in turn, is a recently revised edition of previous versions of itself and was also approved by the EU Ministries of Spatial Planning in cooperation with the European Parliament, the European Commission and many others.
Thoroughly confused?
Do YOU consider the new Charta to be helpful? What are your thoughts and expectations about it? Happy to hear from you!
Admin - 15:18 @