BauAbschnitte - Construction Stages
17.02.2021
Von wegen Dorf-Sterben!
Wer meinen Artikel mitsamt der umfangreichen Fussnoten lesen mag, hier ist er als pdf: DorfSterben 2021 JJ.pdf
„Mal über TabuThemen reden“ bittet das deutsche Bundesamt für Bauwesen in einer bewusst plakativ titulierten Broschüre. Ok, meinetwegen gerne: warum sind in Deutschland ganze Landstriche menschlich verwaist, obwohl es dort so viel leere Häuser und Wohnraumflächen gäbe….während in vielen Städten die Menschen ächzen unter galoppierenden Wohnkosten? (Für die Statistik-Liebhabenden: hierzulande ist Wohnraummangel 3mal so häufig in der Stadt wie auf dem Land, von den sogenannten Überlastungsquoten durch Wohnkosten ganz zu schweigen.)
Vermutlich fallen dafür jedem Lesenden direkt offensichtliche Gründe ein: z.B. der unterschiedliche „Typ Mensch“ Dorf vs. Stadt (Stichwort „Odenwaldhölle“, da mag nicht jeder wohnen) oder fehlende digitale und auch non-digitale Infrastruktur wie Kindergärten, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten im ländlichen Raum. Dazu wird viel geforscht, viel auch von (kommunal-) politischer Seite finanziell investiert und viel auch medial zum Beispiel über die ARD Themenwoche 2020 „Land in Sicht“ kolportiert.
Warum also dann noch dieser Onepager? Er ist eine kurz-knackige Zusammenfassung meiner soziologischen Analyse zur Verbindung von Architektur und sterbenden Dörfern. Es gibt eine schier unendliche Anzahl von Studien und Förderprogrammen gegen Dorfsterben in Deutschland, aber architektonische Aspekte werden nur am Rande gestreift. Eine strukturierte Übersicht mit dem Fokus auf Architektur habe ich nirgendwo gefunden, insbesondere auch nicht mit Blick auf dadurch ermöglichten Zuzug aus Städten.
Zunächst in aller Kürze die Faktenlage:
Rein flächenmäßig machen „sehr ländliche Regionen mit weniger guter sozioökonomischer Lage“ (beamtendeutsch für sterbende Dörfer) fast 40% ! Deutschlands aus. Regional ist das sehr unterschiedlich verteilt, wie die Grafik über die erwartete Bevölkerungsentwicklung zeigt. Ganze Landstriche (blaue Flecken), die nicht in einem städtischen Speckgürtel liegen, v.a. im östlichen Ostdeutschland, in Randgebieten Bayerns, in Teilen der Mitte Deutschlands sowie an den Küsten, sind betroffen.
Und wie sieht es in solchen ausblutenden Gegenden aus?
Landschaftlich meistens schön. So wie Stadtmenschen sich Landidylle halt vorstellen. Aber leider doch nicht so schön, dass es für ausreichend Tourismus und damit Einnahmequellen sorgen würde. Und architektonisch…ein Graus. Die zweite Grafik zeigt, dass es gerade dort fast so etwas wie einen Baustopp zu geben scheint. Jedenfalls sind die sterbenden Dörfer -natürlich- die, wo wenig bis gar nix Neues gebaut wird (ockerfarbene Flecken).
Fünf „architektonische Anspruchsgruppen“ habe ich auf Basis exemplarischer Untersuchungen von erfolgreichen Dorf-Reaktivierungen inklusive (!) Zuzug von Stadtmenschen identifiziert. Wenn deren -sehr unterschiedliche- Bedürfnisse jeweils architektonisch berücksichtigt werden, hat nach meinem Dafürhalten jedes Dorf die Chance, reaktiviert zu werden. Und bietet andererseits Stadtmenschen das Potenzial für neuen, erschwinglichen und dringend benötigten Wohnraum:
Ein architektonischer Problemfaktor für Typ „ALT-IST“ (heutige ältere Dorfbewohnende): dass bestehende Häuser aufgrund von Alter und Lage nicht attraktiv genug für einen Verkauf sind. Wenn dann noch ehemalige Gast- oder Rathäuser in der Mitte des Dorfes nicht mehr genutzt werden, führt das schnell zur innerdörflichen Verödung.
Zusammen mit einem Problemfaktor des Typs „JUNG-IST“ (heutige jüngere Dörfler und Dorf-Rückzugwillige, auch mit Kindern und Jugendlichen), nämlich der -häufig unerfüllt bleibende- Wille nach neuen Baugebieten am Ortsrand, wo schnell, preiswert und individuell neu gebaut werden kann, ergibt sich der sogenannte Donut-Effekt (innen ist der Ort leer und verödet, außen bebaut, aber ohne eigenen Charme sowie Infrastruktur).
Dadurch kann auch regionales Bau-Kultur-Erbe verlorengehen, was ansonsten in seiner baulichen Einzigartigkeit Magnet für Tourismus oder weiteren Zuzug sein könnte. „Culture Clash“ könnte wiederum Risikofaktor sein, wenn die drei Ex-Stadttypen (Typen „SENIOR-NEU“, „ÖKO-NEU“ & „KREATIV/OFFICE“) auf ihre jeweiligen dörflichen Pendants treffen. Ein Ü70-Bauer, der nie in seinem Leben das Dorf verlassen hat, dürfte wohn-technisch andere Interessen haben als eine kosmopolitisch-geprägte Ü70-Städterin, die erst im Ruhestand aufs Land zieht. Auch manch völlig verklärter Klischeeblick junger Stadtmenschen einem Dorfleben gegenüber mag zu Verstimmungen führen, vor allem wenn diese sich dann Vorurteilen von Seiten der Landbevölkerung gegenüber sehen. Architektur kann hierbei als ein wunderbares Kitmittel oder Bindeglied fungieren.
Beispiele gefällig? Nindorf in Schleswig-Holstein ist einer der aktuellen Sieger beim Wettbewerb „Unser-Dorf hat Zukunft“ (durchgeführt seit 1967 vom Bundeslandwirtschaftsministerium): mit viel Eigenleistung haben die Dorfbewohnenden dem Donut-Effekt entgegengewirkt und unter Anderem das stark frequentierte „Dörp-Huus“ (Dorfhaus) mit angeschlossenem Kindergarten (neu) gebaut. Dem Typ „JUNG-IST“ kommt das Dorf ebenso wie umzugswilligen Städtern durch Kartierung vorhandener Grundstücke entgegen: dadurch soll preiswertes Bauland für junge Familien geschaffen werden. Neubau scheint das Gebot der Stunde für Nindorf zu sein. Es profitiert der Typ „ALT-IST“ davon: sie werden ihre alten unrenovierten Häuser los, wenngleich diese dafür dem Erdboden gleich gemacht werden.
Anders, wenngleich auch im Neubau, verfährt ein weiterer Sieger: das Dorf Dobbertin in Mecklenburg-Vorpommern hat ein „Dorf im Dorf“ entwickelt und 28 barrierefreie Mietwohnungen in einer Art Kommune für die Typen „ALT-IST“ und „SENIOR-NEU“ gebaut. „Neues Leben in alte Häuser“ möchte hingegen zum Beispiel das Dorf Garlitz in Brandenburg bekommen. Es hat sich dem gleichnamigen Innovationsbündnis Havelland angeschlossen, arbeitet an Stammtischen an einem Zukunftsplan „Garlitz 2030“ und hat sich ökologische Grundsätze beim Bauen im Dorf auf die Fahne geschrieben. Auch das Dorf Rumbach in Rheinland-Pfalz baut ökologisch um: die Fachwerkhäuser im Dorfinneren werden derzeit von den jungen Bewohnenden energetisch saniert.
Die „Raumpioniere Oberlausitz“ sind ein schönes Beispiel für den Ex-Stadt Typ „Kreativ/Office“. Ein Paar aus Berlin hat sich und ihren zwei Kindern den Wunsch nach preiswertem Wohnraum auf dem Land erfüllt, für EUR 10.000 ihr Haus in Klein Priebus in Sachsen gekauft und selbständig umgebaut. Ihren Job geben sie kreativ mit „Text Bild Ton“ an, was sie auch dazu nutzen, neue Ex-Stadtmenschen beim Umzug aufs dörfliche Land zu finden und zu unterstützen. Mit Erfolg. Ihr architektonisches Erfolgsrezept? HausPreis und Eigenleistung, von ersterem wenig und von letzterem mehr als eigentlich geplant war.
Ein weiteres Beispiel für den Typ „Kreativ/ Office“ findet sich in dem künstlich (!) angelegten Dorf Hitzacker. Dort sind günstige Mehrparteienhäuser in Modulbauweise geplant, ein Wunsch, den ich bei mehreren Projekten für diesen architektonischen Ex-Stadt-Typ gesehen habe:
„Die Häuser wurden von der Baugruppe und dem Architekten gemeinsam entwickelt. Es sind aus ökologischen Gründen Mehrparteienhäuser in Modulbauweise - d.h. von außen sehen sie ähnlich aus, sind in verschiedenen Farben angestrichen und innen sind sie je nach Bedarf der Hausgemeinschaft verschieden aufgeteilt. Sie sind anderthalb geschossig und haben ein Pultdach. Alle Häuser haben bodentiefe Fenster und Türen und sind damit innen ganz hell. Sie stehen in lockerer Folge an der Dorfstraße und mit einem Rundling abschließend entlang der Dorfstraße.“ (Quelle: https://hitzacker-dorf.de/textarticles/fragen-antworten, abgerufen 17.02.2021).
Einfach bauen ist auch das Ziel von vier Architektinnen und Künstlern, die von Städten in das Dorf Bedheim in Thüringen gezogen sind. Dort bauen sie mit einfachen und regionalen Mitteln sowohl die einstige Ritterburg um, in der sie wohnen und arbeiten, als auch neu wie z.B. den angrenzenden Sch(l)afstall, der auch Begegnungsort für Architektur-Studierende sein soll. Solidarisch wird die hofeigene Landwirtschaft betrieben, so dass diese Gruppe von Ex-Städtern sowohl den Typen „ÖKO-NEU“ als auch „KREATIV/OFFICE“ zugeordnet werden kann.
Weitere Beispiele für diese beiden Typen möchte ich Euch in der englischsprachigen Version dieses Onepagers vorstellen, die bald veröffentlicht wird und sich auf das Dorfsterben im internationalen Kontext konzentriert. Stay tuned!
Mein Ziel mit diesem deutschen Onepager ist es, in einem allerersten Schritt die Grundlage für eine kurze „Check-Liste Architektur“ sowohl für Dorf-Entscheidende als auch für umzugswillige Stadtmenschen zu bieten. Jedes Dorf kann so strukturiert selbst entscheiden, welche der fünf Anspruchsgruppen es architektonisch wie erreichen möchte, um das eigene Dorfsterben zu verhindern: „was & wie bauen wir für neues Leben im Dorf?“. Und damit ebenfalls strukturiert – was derzeit nicht der Fall ist- Antworten auf die Städterfrage zu bieten: „wäre genau dieses Dorf als neuer Wohnraum etwas für mich?“
Zum Weiterlesen:
Baukultur Bericht „Stadt und Land 2016/17“ von der baukultur Stiftung.
Admin - 16:33 @