Was sagt eigentlich Immanuel Kant zum MetaVersum?
Eine kurze philosophische Spielerei.
Metaversum – ein Begriff, der momentan polarisiert. Die Einen sind technikbegeistert und können die Nutzung gar nicht abwarten, die Anderen mögen das Wort nicht mehr hören und finden es mehr als kritikwürdig. Für die Meisten ist es vermutlich immer noch ein Buch mit sieben Siegeln.
Ich definiere Metaversum hier der Einfachheit halber als die Schaffung eines zweiten Ichs, einer zweiten virtuellen Persönlichkeit. Alle wären sozusagen „geklont“ IN dem Metaversum-Internet und zwar immer, konstant - und nicht nur, wenn wir wie heute den Rechner oder das Handy anschalten.
Das physische reale Selbst könnte durch das Metaversum grenzen-los mit der zweiten virtuellen Person, die nach eigenem Gutdünken neu erfunden werden kann, vermischt leben. Grenzen-los im Sinne von: die Grenzen verschwimmen. Damit ist auch klar, dass das Metaversum jede Branche, jedes Zusammenleben, jede Aktivität revolutionieren könnte.
Microsoft will zum Beispiel „Holoportation“ anbieten: ein holografisches 3D Abbild von Menschen im virtuellen Raum. Das könnte dann so aussehen: Du bleibst z.B. als Architekt morgens in Deinem kuscheligen realen Zuhause, klickst Dich in Dein virtuelles Architekturbüro, das online 1:1 so aussieht wie das reale. Dort triffst Du Deine Mitarbeitenden oder die Kundschaft und zwar so realitätsnah, dass Du das Gefühl hast, sie stehen, sitzen, gehen neben Dir. Wie in der physischen Welt arbeitet ihr dann an Euren Projekten und Modellen, die ihr gemeinsam verändern, verschieben und verschönern könnt. Wer vor Ort im echten Büro ist und wer sich per Metaversum einklinkt, soll irgendwann keine Rolle mehr spielen. Ein 2-Minuten-Video zu diesem Zukunftsszenario, dass so wenig mit teams, skype etc. zu tun hat, bietet Microsoft hier.
Wenn Ihr das in abgespeckter Form auf eigene Faust erkunden wollt, schnappt euch einfach eure VR-Brille (ich habe die Billigste gekauft, die ich in Deutschland bekommen konnte, sie funktioniert übrigens sehr gut), wählt eine Metaverse-App aus und ich verspreche euch, ihr werdet aus dem Staunen nicht rauskommen, WIE real sich das anfühlt.
Und wer jetzt denkt, dass die VR Brille zu wenig ist, schließlich haben wir Menschen mehr als einen (Seh-) Sinn, der kann hier nachlesen, dass fühlen, riechen, schmecken und laufen im Metaversum technisch schon möglich oder bald möglich sein wird.
Übrigens wird auch mit Hochdruck an Sensorik gearbeitet, die in realen Wänden, Decken und Böden unserer echten Häuser installiert wird…und die die derzeit klobige Hardware wie VR Brillen irgendwann ersetzen soll. Du wachst also dann morgens in Deinem realen Bett auf und bist dank der Sensorik schon IM Metaversum.
Ich frage mich: was macht die mögliche Schaffung einer zweiten Realität in einer 3D-Welt mit uns als Gesellschaft? Welche Werte und Normen gelten, welche Ethik gilt, wenn wir Menschen die Restriktionen des physischen Raums jederzeit verlassen können? Wenn wir gott-gleich uns selbst neu erschaffen und physisch-virtuell-gemixt leben?
Spannende Fragen. Welche die Philosophie natürlich schon seit Jahrtausenden beschäftigt, die durch die Technologisierung und das Internet seit Jahrzehnten intensiviert wurden, aber die durch die Möglichkeit des Metaversums jetzt auf ein völlig neues, noch nie erreichtes Level gehoben werden.
Mit diesem Essay möchte ich kurz und knackig und auf mehr spielerische Weise den Philosophen Immanuel Kant (1724-1804) nach dessen Meinung zum heutigen Metaversum „befragen“ und so das Feld philosophisch vorbereiten für eine spätere mögliche Beantwortung der zuvor aufgeworfenen Fragen.
Warum ihn?
Nach eigenen Angaben hatte er „das Schicksal, in die MetaPhysik verliebt“ gewesen zu sein. „Meta“ (hier griechisch für „höhere Stufe“) von „Physik“ (hier griechisch für „Naturforschung“) hat Kant eine Art Grundlagenwissenschaft eines sittlich-praktischen Handelns von Menschen entwickelt. Allein die Namensähnlichkeit mit dem Kofferwort MetaVersum reizt mich.
Außerdem war Kant auf der Höhe der Zeit, was sowohl wissenschaftliche als auch technische Neuerungen betraf. Diese Erkenntnisse flossen immer wieder mit in seine philosophischen Texte ein, weshalb ich stark annehme, eine so bahnbrechende neue technische Möglichkeit wie das Metaversum hätte ihn auch gereizt.
Nicht zuletzt hatte der Philosoph, der nie (!) reiste und damit auch nie aus seinem beschaulichen Wohnort Königsberg/ Preußen herauskam, eine Gabe, sich sozusagen „virtuell“ an andere Orte zu versetzen, wie folgende kurze Anekdote zeigt: „seine Lieblingslektüre waren Reisebeschreibungen, er schilderte z.B. einmal in Gegenwart eines Londoners so genau die Bauart der Westminsterbrücke, dass dieser ihn verwundert fragte, wie lange er in London gelebt habe und ob er sich besonders für Architektur interessiere!“ (Christoph Helferich, Geschichte der Philosophie, 1992, S. 246).
Was ist Kants Kernphilosophie?
Ein Gegenstand entstehe laut Kant erst dadurch, dass wir als Menschen ihn mit Raum und Zeit wahrnehmen und ihn dadurch mit etwas aus unserem Inneren verknüpfen. Dinge „sind“ also nicht, sondern sie „erscheinen“ uns nur. Außerhalb von Raum und Zeit könne Mensch nichts wissen, auch nichts von einem Gott oder Ähnlichem. All unsere Erkenntnis basiere laut dem Philosophen auf möglichen Erfahrungen. Was wir nicht erfahren (können), könnten wir auch nicht wissen.
Kants Zeitgenosse Heinrich von Kleist formuliert es 1801 pointiert so:
„Wenn alle Menschen statt der Augen grüne Gläser hätten, so würden sie urteilen müssen, die Gegenstände, welche sie dadurch erblicken, sind grün – und nie würden sie entscheiden können, ob ihr Auge ihnen die Dinge zeigt, wie sie sind, oder ob es nicht etwas zu ihnen hinzutut, was nicht ihnen, sondern dem Auge gehört. So ist es mit dem Verstande. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist, oder ob es uns nur so scheint.“ (in: Helferich, S. 253)
Wenn wir hier „grüne Gläser“ durch „VR Brille“ ersetzen…sind wir schon mitten im Metaversum!
Unser Verstand helfe uns laut Kant dabei, dass die Gegenstände uns nicht „falsch erscheinen“. Mittels unseres Denkens finden wir Begriffe für alle sinnlichen Wahrnehmungen und könnten diese dadurch kategorisieren. Also auch einordnen, ob eine neue sinnliche Wahrnehmung in eine bestimmte Begriffskategorie passt oder nicht. Ob sie eine Illusion ist oder nicht.
Wie spannend ist das bezogen auf unser Metaversum! Jede(r) von uns kann selbst entscheiden, ob die 3D-Welt wahr erscheint oder nicht! Ob sie in unsere Begriffskategorien von Leben, Wohnen, Arbeiten etc. passt oder ob wir neue Begriffe dafür finden. Habt Ihr Ideen für neue Begriffskategorien rund um das Metaversum? Ich freue mich auf Eure Vorschläge!
Unsere Vernunft soll uns laut Kant beim Denken und Kategorisieren anleiten. Selbst wenn wir Dinge wie eine Seele oder das Weltganze nicht wirklich erklären können, biete unsere Vernunft uns eine weitere, eine „als-ob-Kategorie“ an. Wir würden davon ausgehen, dass eine Sache so und nicht anders ist, obwohl wir die Gründe dafür nicht genau benennen können. Klassisches Beispiel dafür ist die Religion. Was wäre, wenn wir die „als-ob-Kategorie“ auf die virtuelle Realität als Erweiterung der physischen Realität anwenden?
Kant bietet noch mehr spannende Aussagen, die sich leicht aufs heutige Metaversum extrapolieren lassen. Denn für den Philosophen ist der Mensch „Bürger zweier Welten“!!
In den 1780er Jahren meint er damit, dass ein Mensch einerseits auf dieser Erde geboren wird und durch körperliche, seelische und geistige Verflechtungen von Anfang an „unfrei“, sprich von Außen beeinflusst, sei. Aber, andererseits sei ein Mensch auch "ein Ding an sich“: wir haben ein Selbstbewusstsein, das mit Verstand und Vernunft verknüpft ist. Dieser individuelle Charakter sei nur durch Denken zugänglich und stehe außerhalb von Ursache-Wirkungsketten.
Was spricht dagegen, diesen Sachverhalt auf die Dualität reale Welt und virtuelle Welt anzuwenden? „Unfrei“ ist ein physischer Mensch zum Beispiel aufgrund der körperlichen Beschaffenheit. Er könnte aber im Metaversum als Avatar auch als „ein Ding an sich“ die Grenzen irdischer Beschaffenheit hinter sich lassen und zum Beispiel frei wie ein Vogel fliegen (es GIBT Avatare = Menschen, die das machen).
In diesem Essay habe ich einige wenige metaphysische Kerngedanken von Immanuel Kant genutzt, um mögliche Analogien zum heutigen Metaversum aufzuzeichnen. Es gibt noch so viel mehr Hilfreiches (und Kritisches) von dem Philosophen der Aufklärung, was uns bei der Beantwortung sittlicher und moralischer Fragen rund um die neue 3D-Welt unterstützen könnte.
Welche Sitten und Normen sollte es im Metaversum geben, wenn wir jetzt ganz zum Schluss noch mal Kants Meinung einholen?
„Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können“. Das ist sein Kategorischer (=ohne Bedingungen) Imperativ, der laut Kant auf abstrakter Ebene das wiedergebe, was für Menschen ein allgemein gültiges Sittengesetz sei.
Wenn ich zum Beispiel nicht betrogen werden möchte (= Maxime oder subjektiver Grundsatz von meinem persönlichen Willen), dann handele ich auch so, das heißt, ich betrüge auch niemand Anderen. Et voilà, „nicht betrügen“ könnte Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung auch im Metaversum sein.
Kants Kategorischer Imperativ hat natürlich Schwächen (blöd zum Beispiel, wenn zwei Avatare völlig konträre Maximen ihres Willens haben. Wer bestimmt, was allgemeines Gesetz sein könnte?!) und es zeigt auch seine eher idealistische Einstellung zum Frieden.
Fakt ist: für Kant ist Grundvoraussetzung für einen aufgeklärten Menschen die persönliche Willensfreiheit. Ob das in einem Metaversum gegeben sein kann, das sich leider auch Richtung „Corporatocracy“ (Herrschaft durch wenige, fast allmächtige Konzerne) entwickeln könnte, halte ich für diskussionswürdig.
Basierend auf meinen Untersuchungen zu Kant komme ich augenzwinkernd zu folgendem salomonischem Schluss: es besteht eine 50/50-Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph des 18. Jahrhunderts heute ein Fan des Metaversums gewesen wäre.
Dagegen spricht, dass für Kant nur die Natur das Maß aller Dinge ist. Er nennt Natur die einzige freie Schönheit, die alle Menschen als rein wahrnehmen würden. Ein holografisches 3D-ABBILD von Menschen in einer virtuellen Welt ist sicher nicht "reine Natur".
Dafür spricht aber seine folgende Aussage: „Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andre klein ist […] Erhaben ist, was auch nur denken zu können ein Vermögen des Gemüts beweist, das jeden Maßstab der Sinne übertrifft“.
Also für mich zumindest übertrifft die Möglichkeit metaversischer Schaffung eines zweiten Ichs von uns allen jeden bisherigen Maßstab.